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Jan Koneffke
Wunsch und Welt. Die Moderne und ihre vermeintlichen „Querdenker“

Peter Sloterdijk attestierte den Mitgliedern der Querdenker-Bewegung, wie „Figuren aus dem Spätmittelalter“ den „Weg in die Moderne und damit zu naturwissenschaftlicher Evidenz“ nicht mitgegangen zu sein. Aber wie konnten sie die Jahrhunderte überdauern und wo ihre Glaubenssätze konservieren? Jan Koneffke zufolge greift es zu kurz, sie jenseits der Moderne zu verorten und so zu beschreiben, als handle es sich um ein Phänomen am Rand.

Ihn selbst hat man ja als „Querdenker“ bezeichnet: den Philosophen Peter Sloterdijk, ein Ausdruck, den er „nie gerne gehört“ haben will. „Ich fühlte mich durch ihn eigentlich immer ein wenig beleidigt“, meinte er in einem SPIEGEL-Gespräch, denn man bekomme mit ihm attestiert, „dass man aus dem Konsensus herausfällt, was mir gar keine eigene Motivation ist“.

Neulich legte er mit einer Diagnose der sogenannten „Querdenker“ nach: Es handele sich dabei um „Figuren wie aus dem Spätmittelalter, die den Weg in die Moderne und damit zu naturwissenschaftlicher Evidenz und zum Staatsbürgertum innerlich nicht mitgegangen sind. Das hat im Verwechseln der eigenen Wünsche mit der Welt etwas Kleinkindliches.“
Das ist gewiss griffig formuliert. Und wenn er von „Regressionssystemen“ spricht, denen die vermeintlichen „Querdenker“ anhängen, und von „sektenähnlichen Meinungsgenossenschaften“, liegt Sloterdijk sicher nicht falsch – aber macht er es sich nicht zu einfach?

Denn auf den Prüfstand gestellt, scheint die Diagnose doch einem eher simplen Weltbild zu folgen. Auf der einen Seite moderne Welt, naturwissenschaftliche Evidenz und Staatsbürgertum als vernünftige, sichere Werte – auf der anderen Seite die Sekte der „Querdenker“, die, mit beiden Beinen im Mittelalter, nur Schaube und Haube abgelegt haben und behaupten, die Erde sei flach und nicht rund. Doch wie es ihnen gelungen ist, die vergangenen Jahrhunderte zu überdauern, verrät Sloterdijk uns leider nicht.

Man könnte aber von ihm verlangen, über die eher verqueren als queren „Querdenker“, bei denen es vor allem am Denken hapert, selber präziser nachzudenken. Seine sektenähnlichen Meinungsgenossen sind nämlich offenbar Teil der Moderne, einer Moderne, die – historisch mal stärker, mal schwächer – immer auch Anti-Moderne war. Zumindest stellt diese wissenschaftlich und technisch avancierte Moderne den Sektenanhängern das Internet als, sagen wir, „E-Katakombe“ zur Verfügung. In deren Echokammern können sie sich gegenseitig, mehr un- als heimlich, in ihren Glaubenssätzen, Verschwörungs- und anderen Mythen bestärken bis anstacheln.

Gerade die junge Geschichte des World Wide Web macht den Umschlag moderner Entwicklung in ihr eigenes Gegenteil offensichtlich: Bekanntlich verfolgte die Hypermedia-Initiative ursprünglich den Zweck, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung bereitzustellen und leichter auszutauschen. Nicht nur Effizienzsteigerung war das Ziel. Durch den allgemeinen Zugang zu Informationen und neuestem Wissen sollte beides demokratisiert werden. Doch scheint das Web inzwischen von niemandem virtuoser bespielt zu werden als von Verschwörungsaposteln und Demokratieverächtern. Gegen alle Einsicht in aktuelle naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die das Netz zu Anfang ermöglichen sollte, ist es Teil eines Systems zur Verbreitung abstruser Ideen und Fake News geworden.

Nein, die Bewegung angeblicher „Querdenker“ hat mit den Figuren des Spätmittelalters in Jabberwocky nur wenig gemein. Sie ist akademisch geprägt und vor allem in der Mitte unserer modernen Gesellschaft zu Hause. Politisch kommt sie in Deutschland, sagt eine Studie der Soziologen Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei, eher von links als von rechts.

Viele dieser naturromantischen „Querdenker“ scheinen verirrte Erben der „alternativen“ und „grünen“ Siebzigerjahre, fehlgehende Nachkommen der Demokratiebewegung (sic!) der späteren Nachkriegszeit, als das Misstrauen in staatliche Institutionen durch die Nazivergangenheit historisch berechtigt war (das Staatsbürgertum, auf das Sloterdijk pocht, wird freilich auch heute noch arg strapaziert, wenn sich ein deutscher Verfassungsschutzpräsident als reaktionärer Verharmloser rechter Gewalt erweist, als sei man im finstersten Weimar …); einst opponierten sie gegen autoritäres Verhalten und Hierarchien; zogen gegen eine veröffentlichte Meinung zu Felde, die als konformistisch galt, organisierten die Gegenöffentlichkeit (diesem Verlangen entsprang auch das Wespennest); und zweifelten an einer Kaste von Ärzten, die zu Recht die Bezeichnung „Halbgötter in Weiß“ provozierte.

Zunächst war die Forderung nach individueller Freiheit auch ein Protest gegen die Unterwerfung des Individuums unter die Anforderungen von Staat und Gesellschaft – die historisch katastrophalen Folgen des blinden Gehorsams waren noch nicht vergessen. Und bald vertiefte sich auch der Zweifel an der Ideologie vom unausweichlichen Fortschritt in Wissenschaft und Geschichte.

Ein Teil der „Querdenker“-Szene hat hier ihre Wurzeln. Ironischerweise ersetzt sie die einst berechtigte Skepsis am Fortschrittsglauben inzwischen durch eigene Glaubensbekenntnisse, sei es in die natürlichen Selbstheilungskräfte, sei es in spirituelles Denken, sei es ins eigene Gefühl. Das wenigstens, meinen sie, trüge sie nicht – anders als die Experten, die seelenlos und sachlich, wenn nicht am Ende vor allem interessengeleitet seien.

Und plötzlich versammeln sie sich als Coronaleugner zusammen mit den Auschwitzleugnern hinter denselben Fahnen (oder Reichskriegsflaggen). Ihre presseskeptische DNA macht sie anfällig für das von Neonazis, Rassisten und Antidemokraten verwendete Goebbels-Wort: „Lügenpresse“. Bis heute trauen sie dem Staat nicht über den Weg, dessen Volkszählungsabsichten sie durch massiven Protest in den frühen Achtzigerjahren durchkreuzten – und nun verbünden sie sich mit Kräften, die an die Stelle der Bundesrepublik Deutschland das 4. Reich setzen wollen.

Die Vorzeichen haben sich längst verkehrt: Die „Freiheit des Individuums“ ist, in unseren Breiten allemal, kein Protest mehr – sie ist zum Fetisch geworden. Das wiederum liegt an einer Moderne, die die Freiheit des Ichs verabsolutiert hat und ihre anderen Postulate, Gleichheit und Brüderlichkeit, vergaß (vor allem die Brüderlichkeit könnte in pandemischen Zeiten das glaubhafte Gegengewicht zu einer verabsolutierten Freiheit bilden).
In einer Welt der Ökonomie, die alle Lebensbereiche durchdringt, ist die Freiheit des Individuums in erster Linie die Freiheit des Marktteilnehmers. Privateste Angaben, die von den Usern der Facebook-Community mitgeteilt werden, finden als Kundendaten Verwendung (anzunehmen, dass viele dem Staat gegenüber keineswegs auskunftsfreudigen „Querdenker“ noch ihre persönlichsten Dinge ins Netz stellen). Doch wenn die Freiheit des Ichs insbesondere die Freiheit des Kunden ist, stehen seine Wünsche natürlich im Vordergrund. Daher das infantile Benehmen, das Wunsch und Welt miteinander verwechselt. Besteht die Freiheit im freien Konsum, bedeutet bereits eine Maskenpflicht zwangsläufig Unfreiheit.

Zu Recht spricht Sloterdijk von „Regressionssystemen“, denen die vermeintlichen „Querdenker“ anhängen. Nur hat die Moderne selbst Anteil an ihnen. Sie selber trägt Züge der Regression. Oder wie soll man es sonst bewerten, wenn drei der vermögendsten Männer der Welt – besser gesagt: die modernen Pharaonen – für drei zehnminütige Erdumrundungen viele Milliarden ausgeben? Schon seit seiner Kinderzeit ziehe es ihn ja ins Weltall, verkündet Jeff Bezos.

Da haben wir ihn, den harmonischen Dreiklang: modernste Technologie, das freieste Individuum und Regression. Mit dem Unterschied, dass ein Jeff Bezos, ein Richard Branson oder ein Elon Musk keineswegs Wunsch und Welt miteinander verwechseln – diesen dreien wird die Welt, wie sie ist, keinen Wunsch versagen.

Man könnte fast meinen, Sloterdijks Diagnose sei so flach und schematisch ausgefallen, damit sie nur nicht den „Konsensus“ verletzt und man ihn am Ende bezichtigt, doch quer zu denken.


Jan Koneffke, geb. 1960 in Darmstadt. Wespennest-Redaktionsmitglied seit 2004. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin, lebte in Rom und pendelt heute zwischen Wien und Bukarest. Letzte Veröffentlichungen: Ein Sonntagskind. Roman (2015), Als sei es dein. Gedichte (2018), Die Tsantsa-Memoiren. Roman (2020)

04.10.2021

© Jan Koneffke / Wespennest


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